Wie gamifiziere ich meinen Unterricht?

Teil 3 – Mit neuem Blick auf die Lernenden

In den beiden vorherigen Blogs habe ich davon berichtet, wie mein Gamification-Konzept funktioniert (Teil 1) und wie das Lernen der Lernenden sichtbar wird (Teil 2). In diesem 3. Teil möchte ich veranschaulichen, was sich bei der Lehrperson verändern kann. Ich kann auf jeden Fall erzählen, was bei mir in den vergangenen Monaten passiert ist – welche Einblicke mich bewegt haben, welche Einstellung ich revidieren musste, welche neuen Gedanken und Gefühle ich den Lernenden und ihrem Lernen gegenüber entwickelt habe. Und ich weiss, dass ich dabei nicht allein bin.

  • 4. Juni 2021, 10:00
  • Lernen 360 Grad

Das Lehren verändert sich

Ich bin eine schlechte Lehrerin – weil ich der tiefen Überzeugung bin, dass ich meine Lernenden nichts lehren kann. Aber ich kann herausfordernde (und nicht überfordernde) Lernarrangements gestalten, vielfältige Lernaufgaben formulieren und umfassende Lehr-Lern-Konzepte erstellen. Das Gamification-Konzept ist so eines. Ich wollte in meinem Unterricht einen Schritt weitergehen und von den wöchentlichen Aufträgen und Übungen wegkommen, die alle gleichzeitig lösen und die von mir sodann korrigiert werden, aber deren Rückmeldungen gar nicht angeschaut, geschweige denn verarbeitet werden. Ich war unzufrieden, denn die Lernenden arbeiteten daran und der Korrekturaufwand war ebenfalls hoch – für nichts und wieder nichts? Das wollte ich ändern und unter anderem auch mehr über das Lernen der Lernenden erfahren. Und ganz ehrlich, ich staunte nicht schlecht, welche Informationen ich von jedem Einzelnen erhielt. So gewann ich einen ganz neuen Blick auf meine Schülerinnen und Schüler.

Grundannahmen überdenken

Sollte ich jemals gedacht haben, dass die Lernenden faul seien, dann wurde ich entweder eines Besseren belehrt (sie arbeiten stundenlang, oftmals bis spät in die Nacht, machen zahlreiche Übungen, reflektieren ausführlich etc.) oder erfuhr die Hintergründe (sie hatten 5 Prüfungen in einer Woche, weil endlich wieder Präsenzunterricht war). Das konnte ich detailliert sehen, weil sie in OneNote ihre Dateien abgaben, jeweils eine Reflexion dazu schrieben – und das bis zu 100-mal in einem Semester! Darum halte ich es in der Zwischenzeit auch viel besser aus, wenn jemand eine «grosse Pause» macht und während mehrerer Wochen nichts oder nur wenig (Sichtbares) abliefert. Das ist notwendig, wenn ich die Verantwortung tatsächlich den Lernenden übergeben und damit selbstorganisiertes Lernen verankern will. Da ich mich der «wohlwollenden Präsenz» (vgl. Kasten) als Grundhaltung verschrieben habe, gelingt mir die «Balance zwischen Loslassen und Halten» (Lauper & De Boni, S. 177).

Ja, der zeitliche Aufwand für das Sichten aller Arbeiten ist hoch – auch wenn ich schnell bin. Dennoch würde ich dies nicht ändern wollen. Denn jetzt bin ich im ständigen Dialog mit den Lernenden, gebe Feedback zu ihren aktuellen Arbeiten, die sie nach eigenem Zeit- und Arbeitsplan organisieren und vornehmen. Und gemeinsam schaffen wir damit auch eine Basis fürs Lerncoaching – Gespräche, die ich wöchentlich mit 3–5 Lernenden führe und sie so ganz gezielt unterstützen, motivieren, loben kann. Das war bis anhin so nicht möglich.

Vom Lernen zur Expertise

Manchmal entsteht so etwas wie ein Fach- oder Expertengespräch, denn die Lernenden stellen Fragen, zeigen persönliche Knackpunkte auf, hinterfragen ihre Lösungen. So kann ich anhand einer Rückfrage Hinweise auf eine zusätzliche Quelle, einen anderen Lösungsansatz oder ergänzende Apps, Tools und Anwendungen geben.

Ich habe viel über die Lehrverhältnisse erfahren, die Arbeitsbedingungen im Lehrbetrieb, die Schwierigkeiten zu Hause, die besonderen Herausforderungen innerhalb der Peers. All diese Umstände beeinflussen das Lernen und Arbeiten stark und stehen selten im Einflussbereich der Berufslernenden. Die Lernenden zeigen dabei viel von ihrer Persönlichkeit, wobei diese Erkenntnisse automatisch in den Unterricht einfliessen – sei es in der Gestaltung des Lernarrangements (das Wie) oder der Auswahl der Lerninhalte (das Was). Und es verändert auf jeden Fall die Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden.

Keine Lehrperson ist allein

Ich habe so viel Neues über meine Lernenden erfahren, dass ich mich als Lehrperson, meine Rolle, mein Wirken, meinen Unterricht automatisch hinterfragen musste. Und ich erhielt auch viel Bestätigung, dass das, was ich tue und wie ich es tue, gut ist. Diese Erfahrung machen auch andere Lehrpersonen. So hat beispielsweise das Bildungszentrum für Wirtschaft und Dienstleistung BWD Bern die Grundidee meines Gamification-Konzepts übernommen und in eine Praxisaufgabe zur Vertiefung von Excel integriert (Dieses Projekt steht allen auf TeachOz zur Verfügung, genauso wie das gesamte Gamification-Projekt).

Anita Schuler

Anita Schuler ist IKA-Lehrperson und -Gruppenleiterin. Bereits in ihrer Ausbildung zur Berufsschullehrperson hat sie sich dem Thema «weg vom Lehren, hin zum Lernen», so der Titel ihrer Abschlussarbeit, gewidmet. Dieses Engagement wird gesehen – sei es von der Stiftung Pestalozzianum, welche die genannte Abschlussarbeit 2013 mit einem Professionspreis ehrte, oder vom Innovationsfonds für Berufsbildung, der aktuell ein fächerübergreifendes Projekt unterstützt, in dem Lernprodukte klassische Prüfungen ablösen.