Lernen in produktiven Teams

Lernen in Lerngruppen, in «produktiven Teams» ist – zusätzlich zum individuellen Lernen – für die Lernentwicklung und die Entwicklung von Lernstrategien der Lernenden sehr wichtig. Heute ist in den meisten Wissens- und Tätigkeitsgebieten (interdisziplinäres) Teamlernen und Team-Problemlösen Voraussetzung für die Erarbeitung neuer (Er-)Kenntnisse und Kompetenzen. Problemanalysen, -lösungen und -entwicklungen von Einzelkämpfern genügen schon lange nicht mehr. Das Einüben von Teamlernen ist heutzutage eines der Fundamente von Bildung und Ausbildung.

  • 24. September 2021, 10:00
  • Lernen 360 Grad

Fit 4 BiVo

Lernen ist ein lebenslanger individueller Prozess, bei welchem neues Wissen, neue Erkenntnisse, neue Fähigkeiten, neue Fertigkeiten in das bisher Gelernte eingebaut werden. Menschen können Neues dann lernen, verstehen und anwenden, wenn es in ihr bisheriges Wissen, Verhalten und Können eingebaut werden kann. Neues muss also an bisheriges «andocken» können. Das Vorwissen bestimmt darüber, ob und wie Neues gelernt, verstanden und angewendet werden kann. Mein Lernen findet ausschliesslich in meinem Gehirn statt; ich kann nicht für einen anderen Menschen lernen, und ein anderer Mensch kann nicht für mich lernen. So wie auch nur ich fühlen kann, was und wie ich fühle. Ich kann nicht für einen anderen Menschen fühlen; Gefühle sind individuelle Interpretationen. Mitgefühl bedeutet, dass ich die beobachteten Regungen anderer Menschen im Rahmen meiner eigenen emotionalen Erfahrungen interpretiere.

Jedes Lernteam besteht aus Unikaten

Jeder Mensch hat seine eigene unverwechselbare Lernbiografie, die sich auf die individuelle Genetik und die individuellen Lernumgebungen und -gelegenheiten im bisherigen Leben aufbaut. Menschen sind Unikate: Keine zwei Menschen sind gleich, keine zwei Menschen lernen gleich, keine zwei Menschen haben eine identische Feinstruktur ihres Gehirns. Lernen bestimmt die Fein-Strukturierung des Gehirns in hohem Masse: Lernen geht einher mit Hirnentwicklung. Das Gehirn ist in erstaunlich hohem Masse «plastisch», verformbar durch Lernen. Je mehr der Mensch lernt, desto grösser wird seine Einzigartigkeit. Diese Tatsache wird auch durch Arbeiten in Lerngemeinschaften nicht verändert: Jedes Lernteam besteht aus Unikaten. Es kann nie ein homogenes Team entstehen, auch wenn das Team jahrelang zusammenarbeitet. Und: Ziel der Team-Lernarbeit kann nie sein, dass alle Teammitglieder dasselbe lernen und auf den gleichen Lernlevel kommen. Dies muss bei der Zusammenstellung und Instruktion von Teams und sodann bei der Teamarbeit berücksichtigt werden. Lernteams sind und bleiben heterogene Gruppen.

Produktive Lernteams nutzen individuelle Lernprozesse

Konflikte in Lerngemeinschaften sind normal; sie können wichtiger Teil von Lernprozessen sein. Menschliche Problemlösungsfähigkeit der Teammitglieder ist unabdingbar für ein produktives Lernteam. Kollektive Lernformen, produktive Lernteams müssen also zum Ziel haben, die individuellen Lernvoraussetzungen und Lernbiografien der Teammitglieder zu nutzen und damit die individuellen Lernprozesse aller zu fördern. Durch individuelles Lernen lernt auch die Lerngemeinschaft; sie kann also gemeinsame Ziele erfüllen durch das Lernen ihrer Mitglieder. Wichtig ist, dass sich Lernteams klare Lernziele setzen und dann gemeinsam reflektieren, ob sie diese erreicht haben.

Im Gespräch mit Prof. Dr. Willi Stadelmann, Naturwissenschaftler und Pädagoge

Welche 3 Voraussetzungen sollten gegeben sein, damit Lerngemeinschaften erfolgreich sein können?

1. Lernende sollten sich als Mitglieder der Lerngemeinschaft fühlen. Das bedeutet, dass die Mitglieder im Lauf der Zeit gemeinsame Bindungen entwickeln, gemeinsame Ziele erreichen, gemeinsame Lernwege beschreiten, Verantwortung für einander tragen wollen, ohne ihre Individualität aufzugeben; dass sie bereit sind, Konflikte zu bereinigen und für Lernprozesse zu nutzen.
Eine Lerngemeinschaft, ein «produktives Team» kann als eine soziale Organisation beschrieben werden, die durch einen sozialen Zusammenhang gekennzeichnet ist, in welchem sich die Mitglieder wohl und akzeptiert genug fühlen, um Fragen zu stellen, weiterhin um Hilfe nachzusuchen und auf Fragen zu reagieren, auch wenn sie sich der Antwort nicht sicher sind. Sie erleben aktiv, dass Unsicherheiten und Fehler einen natürlichen Bestandteil eines Lernprozesses darstellen.

2. Teammitglieder sollten insbesondere diese Ziele verfolgen: Erleben positiver gegenseitiger Abhängigkeit zum Zweck der Arbeitsteilung; eigene Lernziele können vor allem im Rahmen derjenigen, die für die Gruppe gesetzt sind, erreicht werden. Teamwork setzt eigene Arbeitsanteile jedes Teammitglieds voraus: Nur wenn jedes Teammitglied sich mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten einbringt, kann erfolgreiches Lern-Teamwork entstehen.
Lernprozesse können im Team speziell gefördert werden, weil die einzelnen Mitglieder ihr Wissen und ihre Meinungen den anderen so erklären müssen, dass diese es verstehen: eine Art «learning by teaching». Gegenseitige Hilfeleistung in der Lerngemeinschaft ist von zentraler Bedeutung. Jedes Mitglied der Lerngruppe übernimmt Mitverantwortung für die anderen Mitglieder und für das Gruppenganze. Soziale Umgangsformen sind also von grosser Bedeutung und müssten eigentlich vor dem Beginn von Arbeiten in Lerngruppen eingeübt werden.

3. Lerngemeinschaften sollten als Ganzes einen Anreiz erhalten, gute Ergebnisse (im Sinne von Erreichen der Lernziele) zu erarbeiten. Sollen Resultate von Lernteams bewertet werden, müssen alternative Möglichkeiten der Beurteilung abgesprochen werden. Haben denn alle Mitglieder des Lernteams gleiche Leistungen erbracht, die «benotet» werden können? Können einzelne Mitglieder überhaupt in ihrer Leistung beurteilt werden? Wie beurteilt man eine Gruppenleistung?

Die kollegiale Fallberatung

In der kollegialen Fallberatung suchen beruflich Gleichgestellte nach Lösungen für ein konkretes Problem. Zunächst wird ein Moderator benannt, der durch die verschiedenen Phasen führt. Ein Ratsuchender schildert dann seinen Fall. Zur Verdeutlichung des Problems können die anderen Teilnehmer Rückfragen stellen, die kurz beantwortet werden.

Anschliessend bearbeitet die Gruppe – ohne Beteiligung des Ratsuchenden – den Fall und sucht nach verschiedenen Lösungsvorschlägen. Der Ratsuchende gibt Rückmeldung, was für ihn hilfreich ist, und entscheidet sich für einen Lösungsweg. Abschliessend berichten alle Teilnehmenden, wie zufrieden sie mit den Lösungsvorschlägen sind und welche Erkenntnisse sie gewonnen haben.

Story

Die Umsetzung «Kaufleute 2022» nimmt Fahrt auf

… so erklärt Susanne Cavadini, Prorektorin am KV Zürich seit 2017, Co-Leiterin der Ausbildung E-Profile sowie Verantwortliche für die Abschlussprüfungen im B- und E-Profil, gegenüber dem Verlag SKV.

 

Verlag SKV: Wo steht Ihre Bildungsinstitution aktuell in der Umsetzung?

Susanne Cavadini: Wir führten vor kurzem zwei interne Weiterbildungstage (SCHILF) durch, an denen wir den Lehrpersonen unsere Vorstellung einer Umsetzung des Projekts «kvzh22» präsentierten. Die Projektorganisation ist auf drei Ebenen verteilt:

Ebene 1 – Projektsteuerung

Die Projektsteuerung und -leitung haben zwei Personen inne, eine davon bin ich. Wir sind beide in verschiedenen nationalen und kantonalen Arbeitsgruppen aktiv.

Ebene 2 – Operative Umsetzung

Zwei Lehrende sind mit der operativen Umsetzung beauftragt. Sie halten die Fäden zusammen und koordinieren die Teilprojekte der Ebene 3.

Ebene 3 – Arbeitsgruppen

Hier haben wir sechs operative Teilprojekte identifiziert, die von verschiedenen Arbeitsgruppen umgesetzt werden.

  1. Pädagogische Umsetzung (des Schullehrplans)
  2. Lernmedien
  3. Personalentwicklung
  4. Weiterbildung der Lehrpersonen
  5. Stundenplanung
  6. Infrastruktur
     

Verlag SKV: Die Projektorganisation zeigt eine klare Struktur und ein in sich schlüssiges Vorgehen auf.

Susanne Cavadini: Ja. Wir sind gut aufgestellt und auf einem guten Weg. Auch können sich die Lehrpersonen durch diese Struktur in den Arbeitsgruppen an der Veränderung beteiligen. Für die nächsten Schritte werden die Grobkonzepte der Teilprojekte erstellt, welche wiederum von der Schulführung abgesegnet werden. Im Anschluss daran (im September) rekrutieren wir Lehrpersonen für die Arbeitsgruppen, die sich sodann einbringen können und die Detailkonzepte zusammen ausarbeiten.

 

Verlag SKV: Wann werden die Arbeitsgruppen mit der Erarbeitung loslegen?

Susanne Cavadini: Wir gehen davon aus, dass z. B. die Arbeitsgruppe «Pädagogische Umsetzung» bis zu den Herbstferien zusammengestellt ist und nach den Herbstferien mit den ersten Themen startet. Auch auf Ebene «Weiterbildung» muss jetzt begonnen werden. Würden wir zuwarten, würden wir den Vorteil durch die Verschiebung des Starts auf August 2023 verlieren. Einige der geplanten Weiterbildungstage werden voraussichtlich im Schuljahr 2021/2022 stattfinden. Dies wiederum muss mit dem Kanton und den Lehrbetrieben koordiniert und organisiert werden.

 

Verlag SKV: Ist diese Koordination mit dem Kanton und den Lehrbetrieben Ihre grösste Herausforderung bei der Umsetzung oder gibt es noch andere?

Susanne Cavadini: Ich würde nicht behaupten, dass dies die grösste Herausforderung ist. Die wirklich grösste Herausforderung liegt bei den Lehrpersonen. Lange gab es Verunsicherungen und Ängste, da man nicht wusste, was auf einen zukommt. In den Anhörungen konnten die Bedürfnisse nochmals genannt und einige Weichen gestellt werden. Nun gilt es, die Freude am Neuen zu wecken und die Reform Schritt für Schritt umzusetzen. Das bedeutet auch, dass man sich auf diesen Wandel einlässt und wir eine Aufbruchstimmung erzeugen müssen. Gerade dies ist in der aktuellen Situation, auch wegen der bestehenden Pandemie und der damit verbundenen Müdigkeit, eine der grössten Herausforderungen. Aber es ist auch eine Chance. So kann die Schule jetzt mobilisieren, damit wir uns gemeinsam auf diesen Weg begeben. Es gibt viele Vorgaben, es gibt auch grosse Veränderungen; dennoch müssen wir es schaffen, unsere schuleigene DNA in die Umsetzung einzubringen. Dies wiederum kann einen tollen Teamgeist erzeugen. Deshalb ist es so wichtig, dass den Lehrpersonen die Möglichkeit geboten wird, in dieser Umsetzungsphase mitzuwirken.

 

Verlag SKV: Die Involvierung und der Einbezug der Lehrpersonen in diesen Wandel ist aus unserer Sicht ein zentrales Element zum Gelingen der Transformation.

Susanne Cavadini: Genau. Uns geht es darum, den Lehrpersonen zu zeigen, dass wir sie befähigen möchten, mit dem Ziel, dass sie glücklich und zufrieden sind mit dem Produkt, welches sie schlussendlich an die lernenden Personen herantragen.

Zwei weitere Herausforderungen sind der Stundenplan und die Organisationsentwicklung. Beim Stundenplan stellen wir uns die Frage, wie wir die neuen Handlungskompetenzbereiche auf die Fachlehrpersonen aufteilen sollen. Die Reform hat zudem Auswirkungen auf unsere Schulorganisation, da die Schule aktuell nach Profilen geführt wird, die es künftig nicht mehr geben wird.

 

Verlag SKV: Wenn Sie anderen Bildungsinstitutionen einen Tipp zur Reform «Kaufleute 2022» geben müssten, welcher wäre das?

Susanne Cavadini: Das Motto «Fröhlich und unverzagt» passt hier sehr gut. Die Umsetzung der Reform sollte mit Mut und Freude angepackt werden. Der Reformprozess und die Inhalte wurden lange vorbereitet. In der genauen Umsetzung haben die Schulen einige Freiräume, z. B. bezüglich der Organisationsstruktur und der Unterrichtsformen. Auch sollen die individuellen Bedürfnisse der Lehrbetriebe berücksichtigt werden, um die geforderte Lernortkooperation zu verstärken. Wichtig dabei ist, dass man nun alle involvierten Institutionen an Bord holt und das Gespräch mit ihnen aufnimmt. Einige Details sind noch nicht ganz klar, weshalb es umso wichtiger ist, Interesse und Bereitschaft zur gemeinsamen Entwicklung zu zeigen. Das wiederum ist auch eine Chance für Lehrpersonen, um sich ein neues Feld zu erschliessen und sich weiterzuentwickeln.

Verlag SKV: Vielen Dank, liebe Frau Cavadini, für das offene Gespräch und den Einblick in die geplanten Schritte zur Reform «Kaufleute 2022». Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Start der Umsetzung.

Inside

Unser Rucksack ist gepackt

Bei uns im Verlag stehen alle Zeichen auf Sturm. Im positiven Sinne! Denn die Reform «Kaufleute 2022» veranlasst uns immer wieder aufs Neue zu kreativem Brainstorming, bei dem innovative, entwicklungsfähige Produkt- und Dienstleistungsideen entstehen.

Unser Rucksack ist nun mehrheitlich gepackt – wir stehen in den Startlöchern. Im April fand die erste Infoveranstaltung für interessierte Bildungsredaktorinnen und -redaktoren statt. Konzeption und Erstellung von neuem Content sind nun in vollem Gange. Im Zuge dessen ist bereits die erste Lerneinheit auf modu:lab verfügbar, sie wird zurzeit intensiven Tests unterzogen. Und in diesen Wochen finden zwei Kick-off-Meetings statt, um unser Konzept der Co-Creation feinspurig in die Wege zu leiten.

Mit unserem neuen Content gehen immer auch vielversprechende Folgeprojekte einher. Wenn Sie mögen, können Sie hier einen Blick in die SKV-Lerngalaxie werfen und Kim auf dem Weg in neue Lernwelten begleiten.

Unsere nächste Reiseetappe mit weiteren Lerneinheiten steht im Spätsommer 2021 bevor. Begleiten Sie uns gerne dabei und melden Sie sich bei uns für einen Blick hinter die Kulissen. Sie sind jederzeit herzlich willkommen.

Vorschau

Auch wenn die Einführung der «Kaufleute 2022» um ein Jahr verschoben wurde, so hindert dies den Verlag SKV keinesfalls daran, an seinem straffen Zeitplan für die Ausarbeitung neuer KV-Lernmedien in Co-Creation festzuhalten. Wir konzentrieren uns voll und ganz auf die ersten Umsetzungen.

Glossar zur BiVo
Kollegiale Fallberatung | Learning by teaching | Lernbiografie | Lernen | Lernprozess | produktives Lernteam | soziale Organisation | Teamwork