Hallo, ist da jemand? (Teil 1)

Der Fernunterricht fordert Dozierende und Studierende gleichermassen. Alte Gewohnheiten müssen über Bord geworfen werden. Die Beziehung aber ist nach wie vor entscheidend für einen gelingenden Unterricht. Rolf Murbach, Redaktor und Dozent, beschreibt, wie er den Fernunterricht während der Corona-Zeit erlebt hat.

  • 19. Juni 2020, 10:00
  • Lernen 360 Grad

Das Seltsame und Schwierige ist die Einsamkeit. Man sitzt vor dem Bildschirm, spricht vermeintlich ins Leere, hält irgendeinen Diskurs und fragt sich: Hört eigentlich jemand zu? Klar, ich sehe die Symbole der Teilnehmenden in BigBlueBotton, Zoom oder Teams. Die Mikrofone sind ausgeschaltet, wie es sich gehört, damit man die Nebengespräche, Nebengeräusche, Nebentätigkeiten nicht hört. Die Order lautet: Schaltet das Mikrofon nur ein, wenn ihr etwas sagen wollt.

Ich unterrichte an Fachhochschulen Wissenschaftliches Schreiben, Storytelling und Gesprächsführung. Wie alle Schulen haben wir im März auf Fernunterricht umgestellt. Der Unsicherheit und Einsamkeit habe ich von Anfang an Abhilfe geschafft. Ich habe die Studierenden aufgefordert, sich zu zeigen und sich zu melden. Ich muss die Menschen, mit denen ich es zu tun habe, sehen und spüren, zumindest zu Beginn einer Lehrveranstaltung.

Das braucht ein wenig Druck, Ansporn – und viel Energie. Was im Klassenzimmer gilt, ist im virtuellen Raum noch wichtiger: Ich bin für die Atmosphäre verantwortlich. Wenn es mir nicht gelingt, die Studierenden zusammenzubringen, dann tauchen sie ab. Ich habe sie verloren und ich bin verloren. Jeder Dozent und jede Dozentin kennt das: Man ist auf einsamem Posten, isoliert, weil das Wichtigste fehlt: die Beziehung.

Lob der Beziehung

Ohne Beziehung geht gar nichts, schon gar nicht im Online-Unterricht. Klar, man könnte seine Lehrveranstaltung als fixe und besprochene Power-Point-Präsentation hochladen, Screencasts auf YouTube stellen und die Studierenden sich dem Selbststudium überlassen. Das mag bei Wissensvermittlung gehen, für einen lebendigen Unterricht ist das keine Option. Für mich war gerade die Beziehungsgestaltung die grosse Herausforderung im virtuellen Unterricht. Das war anstrengend und, wenn es gelang, beglückend.

Mir war schnell klar: Man muss sich in diesem Setting noch mehr bemühen, mit den Studierenden in Kontakt zu sein, weil es ihnen zu Hause, im Wohnzimmer, in der Küche leichtfällt abzudriften. Also muss man als Dozent liefern, sich zeigen, offen sein, die Neugierde bedienen, Aktuelles bringen. Und man sollte sich für die Studierenden interessieren – eine Selbstverständlichkeit eigentlich. Ich habe die Erfahrung gemacht, wie wichtig es war, mich mit ihnen auszutauschen, über die Online-Tools, die wir gemeinsam anwendeten, über das ungewohnte Unterrichtssetting und vor allem über ihre Befindlichkeit. Ich fragte sie regelmässig, wie es ihnen gehe, und wir kamen in guter Weise ins Gespräch. Nicht alle steckten die Corona-Erfahrung einfach weg.

Und so erhielten die Studierenden eine Stimme, fanden eine Sprache und fühlten sich wohl dabei. Es brauchte etwas Mut, denn online – so meine Erfahrung – sind Studierende zurückhaltender als im Präsenzunterricht. Dass ich das Fach Kommunikation unterrichtete, war bestimmt von Vorteil. Wir erprobten unterschiedliche Gesprächsszenarien, reflektierten den Austausch, machten in den Breakout Rooms kommunikativ spannende und auch lustige Erfahrungen. Wie wichtig zum Beispiel psychologische Sicherheit bei einer Präsentation oder in einem Gespräch ist (auch hinter dem Bildschirm), erfuhren die Studierenden unmittelbar.

Nähe durch Ferne

Es war für mich erstaunlich zu erkennen, wie radikal sich Distanz in Nähe verwandeln konnte. Zu Beginn, wie gesagt, war da diese Ferne. Ich sass in einem leeren Vorlesungssaal der HSR Hochschule für Technik Rapperswil, schaute Richtung See und in die Glarner Alpen, während ich redete. Ich sprach zum Wasser, zu den Bergen, zu wem eigentlich? Zu den Studierenden natürlich. So müssen sich Radiomoderatoren fühlen, wenn sie in ihren Diskursen mäandern, auf sich gestellt sind, oft ein wenig selbstgefällig. Ich fragte mich: Hat dieses Dozieren, Erzählen und Argumentieren auch etwas Narzisstisches? Manchmal lief ich zur Hochform auf, manchmal überkam mich Unsicherheit. Ich bin mir sicher, dass die Studierenden in ihren Wohnungen das alles sehr genau mitbekamen.

Ich sprach von Distanz und Nähe. Wenn Beziehung gelang, wenn ich mit den Studierenden ins Gespräch kam, waren wir uns irgendwie nahe, das war verwunderlich und wirkte sich, so die Rückmeldungen, positiv auf den Unterricht aus. Wir hatten nur die Mikrofone eingeschaltet, kommunizierten also ohne Video, und erlebten in Übungen, was genaues Zuhören, eine wertschätzende Haltung oder Perspektivenwechsel meint.

Ich habe durch diesen Fernunterricht gelernt, was ich eigentlich schon immer wichtig fand, aber aus Bequemlichkeit nicht regelmässig praktizierte: Ich muss Altes über Bord werfen. Weg mit Konserven, weg mit alten Schläuchen. Klar, ich verwende Präsentationen auch mehrmals. Aber ich erläutere sie immer anders. Ich habe im Fernunterricht konsequent Aktuelles einbezogen, was in meinem Fach einfach ist. Es gibt so viele gute Gespräche und Auftritte im Netz: Sternstunde Philosophie, Precht, Der achte Tag – Deutschland neu denken. Die Studierenden haben diese Aktualität mit Interesse und Aufmerksamkeit belohnt und sich eingeschaltet. Weil es sie betraf, weil ihr Denken und die Selbstreflexion dadurch in Gang kamen.

Der Fernunterricht bescherte uns viel Arbeit. Tools ausprobieren, didaktisch umdenken, neue Formate erproben. Aber es hat sich gelohnt. Ich habe in dieser Zeit sehr viel gelernt – didaktisch-methodisch, Konferenzsysteme entdeckt und erfahren, wie man miteinander arbeitet, redet, denkt, wenn man irgendwo alleine vor dem Bildschirm sitzt. Zusammen ist und es doch nicht ist. Schliesslich wurde mir bewusst: Der Fernunterricht ist gut und recht und nützlich. Aber wirklicher Unterricht bedingt Präsenz. Wir sind eben doch Menschen.

Rolf Murbach
Rolf Murbach (www.rolfmurbach.com) ist Redaktor bei Context, der Zeitschrift des Kaufmännischen Verbands, Dozent und Schreibcoach. Er unterrichtet an der HSR Hochschule für Technik Rapperswil und an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich.

Kommentare

Rolf Murbach schreibt mir aus dem Herzen. Genau darauf kommt es an: Präsenz aufbauen in der Fernlehre. Das braucht Zeit und Übung. Ein Jahr ist lange genug, um Wege der Präsenz in der Fernlehre zu erkunden und auszubauen. Das hilft dann doppelt: Wir wissen wieder deutlicher, was wir an der Präsenzlehre im alten Sinn haben, und können medienvermittelte Lehr ergänzend dort einsetzen, wo sie wirklich stark ist.